Wie gut die Toten tanzen
 Minuten Lesedauer
Zurück

Wie gut die Toten tanzen

Bühne Tanz Performance
Veröffentlicht am 18.06.2024
Susanne Leuenberger
 Minuten Lesedauer

«Lebenswut» ist das Motto des 41. Performance-Festivals Belluard Bollwerk in Freiburg. Zum Leben gehört auch der Tod – und die Toten, wie die interaktive Geisterprozession «Amazing Journey» von Maxine Reys und Alexandre Montin zeigt. Eine ganz persönliche Begegnung mit Phantomen ist nicht nur ausgeschlossen, sondern erwünscht. Der Tänzer und Choreograf Wojciech Grudziński wiederum überlässt seinen Körper drei verstorbenen Ballettlegenden. Und wird im Solostück «Threesome» zum Wiedergänger seiner Vorgänger.

Was ist eine Stadt? Ist sie nicht eigentlich eine Aufschichtung von Steinen, Rastern, Erinnerungen, Menschen, Ereignissen, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft koexistieren? Und ähnelt die Stadt damit nicht dem menschlichen Körper, der von unterschiedlichsten Erfahrungen und Erinnerungen bewohnt, und manchmal auch heimgesucht wird?

Vielleicht waren es Gedanken wie diese, die den argentinischen Schriftsteller Rodrigo Fresán zu seinem Geisterroman «Mantra» inspirierten, wenn er darin schreibt, dass in jeder Stadt, in jedem Land oder Königreich, «kaum verborgen, eine andere Stadt, ein anderes Land oder Königreich» existiere. Fresáns Protagonist erzählt aus diesem anderen Land. Er ist ein Toter, der allerdings weniger im Jenseits als vielmehr mitten unter den Lebenden weilt. Das erinnert an die Erkenntnis der Psychoanalyse, dass das Unbewusste den Tod nicht kennt – und so tummeln sich die Toten gern in der Sphäre der Lebenden. Unsichtbar, und doch sehr real.

Es ist Fresáns Fiktion einer verborgenen anderen Stadt, die Maxine Reys und Alexandre Montin in ihrer magisch-realistischen Klangprozession erschliessen möchten. Die beiden Westschweizer Multimedia-Künstler*innen haben die Performance eigens für das 41. Freiburger Festival Belluard Bollwerk konzipiert.

Phantome der unsichtbaren Stadt

«Amazing Journey» nennt sich ihre interaktive Tour, die mitten durch die alten Stadtteile Freiburgs führt – und sie ist interaktiv in einem sehr weitreichenden Sinne: Die Spaziergänger*innen treten in Kontakt mit den Geistern und Phantomen der unsichtbaren Stadt; sei es die im Stein und Beton verborgene, sei es die eigene innere Stadt mit ihren Erinnerungen und Stimmen. In den gut 75 Minuten können sich die Lebenden und die Toten begegnen. Das klingt wild.

Maxine Reys und Alexandre Montin lachen und beschwichtigen. «Amazing Journey» huldige keinem morbiden Totenkult, die Prozession sei vielmehr eine sehr persönliche Einladung, sich auf die Atmosphäre und die Schwingungen des Orts rund um das alte Bollwerk, aber auch auf die eigenen Stimmen einzulassen, die unterwegs hochkommen.

Begleitet werden die Spazierenden dabei von einem Audioguide, in dem über einer elektronischen, tranceartigen Soundspur ein Chor von Toten zu Wort kommt – und den Lebenden auch Fragen stellt. «Die Stimmen sollen uns in einen Dialog mit unseren eigenen ‹Spectres›, unseren eigenen Geistern bringen», erklärt Regisseur Alexandre Montin. Unseren Erfahrungen von Abschied, Verlust, Endlichkeit, Schmerzen, aber auch positiven, stärkenden Erinnerungen an Verstorbene.

Image description
Die «Amazing Journey» soll eine fröhliche Geisterprozession werden, in der sich Lebende und Tote begegnen. © Benjamin Fanni

Karnevaleske Prozession

Um in diesen speziellen Schwellenzustand zu gelangen, schlüpfen die Prozessierenden in Gewänder, die Maxine Reys entworfen hat. Diese unterlaufen gängige «Goth»-Ästhetiken, sie sind also keineswegs düster und schwer, sondern kommen leuchtend, rosa, karnevalesk daher. «Das Ablegen der Alltagskleidung erleichtert es, sich einer anderen Wahrnehmung zu öffnen. Eine spirituelle Erfahrung wird damit möglich», sagt Maxine Reys.

Reys und Montin verstehen ihre Performance nicht als abgehoben-esoterisches Ritual, sondern durchaus auch politisch. Denn zu dieser spirituellen Erfahrung gehöre, sich von vorgefertigten Vorstellungen von Geschlecht, Klasse, Race und Alter zu befreien. «Die Geisterbegegnung relativiert identitäre Kategorien, die uns im Alltag trennen. Sie ermöglicht uns Lebenden, als offenes Kollektiv unterwegs zu sein und das, was da ist, neu wahrzunehmen.» Ein gemeinsamer Tanz, ein Tanz mit den Toten wäre wünschenswert. Denn schliesslich signalisieren die schimmernden Kleider auch den Geistern, dass ihre Kontaktaufnahme erwünscht sei.

«Es wird eine leuchtende Prozession. Und eine heilende Fiktion», versprechen die beiden.

Ein Körper für drei queere Vorfahren

Den Toten einen Platz unter den Lebenden geben: Es scheint ein wiederkehrendes Thema des Belluard Festival, das zum letzten Mal unter der Leitung von Laurence Wagner stattfindet. «Lebenswut» lautet das Motto der diesjährigen Festival-Ausgabe, mit dem sie sich zum Abschied empfiehlt – und auch die Toten zum Tanz lädt.

Das tut auch der polnische Tänzer und Choreograf Wojciech Grudziński. In seiner Soloperformance «Threesome» wird sein tanzender Körper zum Gefäss dreier längst verstorbener Tänzer, die er als seine «Ancestors» beschreibt: Die drei Ballettlegenden Stanisław Szymański, Wojciech Wiesiołłowski und Gerard Wilk. Wie Wiesiołłowski und Wilk absolvierte Grudziński, der heute in Amsterdam lebt und arbeitet, die Warschauer Ballettschule – und wie seine drei Vorfahren ist er queer. Während er diesen Teil seiner Identität offen auf die Bühne tragen kann, wurde die sexuelle Orientierung von Szymański, Wiesiołłowski und Wilk damals tabuisiert – in Polen und im Westen.

Image description
Tänzer Wojciech Grudziński überlässt seinen Körper in «Threesome» drei verstorbenen Ballettlegenden. © Maurycy Stankiewicz / TR Warszawa

Bis heute Stigma

Während letztere beiden das sozialistische Polen der 1960er- und 70er-Jahre in Richtung Westen verliessen, blieb Stanisław Szymański, und war lange erster Tänzer des Staatsballetts – er arrangierte sich mit dem System. Alle drei Tänzer verstarben an den Folgen von HIV. «Bis heute bleibt das im nach wie vor homophoben Polen ein Stigma», so Grudziński.

In seinem posthumen Ballett überlässt Wojciech Grudziński seinen Körper den Bewegungen seiner Vorgänger, indem er deren Choreografien reinszeniert. «Mit Mimesis bringe ich ihren Schmerz, ihre Queerness und ihre Lebenslust auf die Bühne.» Und wird so zum Wiedergänger seiner Vorgänger. Auch Verstorbene haben noch Lebenswut.

// Diverse Orte, Freiburg. Do., 27.6., bis Sa., 6.7.

  • «Amazing Journey»: Studios, Freiburg. Premiere: Do., 4.7., 18 Uhr. Vorstellungen bis Sa., 6.7.
  • «Threesome»: Forteresse du Belluard, Freiburg. Do., 4.7., 22 Uhr

www.belluard.ch

Artikel des/derselben Autor:in
Susanne Leuenberger
Susanne Leuenberger
Redaktionsleiterin

BKa abonnieren

Dieser und unzählige weitere Artikel sind auch in gedruckter Form erhältlich. Die Berner Kulturagenda erscheint zweiwöchentlich und beleuchtet das Berner Kulturgeschehen.