Stückweise aufbrechen, immer wieder
Die multimediale Kunst von Matthias Fischer umkreist die sexuellen und spirituellen Übergriffe, die er als Kind durch katholische Geistliche erfahren hat. Die Offene Kirche Bern zeigt eine Auswahl seiner oft schwer verdaulichen Bilder, Installationen, Texte und Videos, in denen der Theologe seine Traumata konfrontiert. Die Ausstellung «Ich lasse dich nicht» wird von einem Podium und Leseabend begleitet.
Als der reformierte Theologe und Seelsorger Matthias Fischer 60 Jahre alt wurde, schenkte ihm seine Familie eine Leinwand. Er begann zu malen, er legte einfach los. Dies alles ganz intuitiv, ohne Rücksicht auf künstlerische Genres, es passierte einfach.
«Ich wusste nicht, dass ich das in mir habe», sagt Matthias Fischer fünf Jahre später über seine Kunst, die mittlerweile auch Holzschnitzereien, Installationen, Foto- und Videoarbeiten, Skulpturen, Gedichte und Endlostexte umfasst. Er arbeitet mit Repetition, Übermalung, Überblendungen, Überschreibungen, er mischt Techniken, kratzt auf.
Grelle Düsterkeit
Manche seiner Arbeiten bleiben ohne Titel, viele benennen aber ganz konkret, was da rauskommt, was da raus will, wenn Matthias Fischer in seinem Atelier arbeitet: «Scham» nennt sich ein abstraktes Bild, von dem eine grelle Düsterkeit ausgeht, «Phallus im Festkleid» heisst ein anderes.
«Priester sind Schweine» ist der sprechende Titel einer audiovisuellen Arbeit: Zu seiner Adaption des Die-Ärzte-Songs «Männer sind Schweine» ist eine Animation zu sehen, die einen Priester mit Schweinekopf zeigt. Untenrum frei gemacht, verschwindet er immer wieder hinter einen Paravent.
Die Ironie des Originals weicht purem Horror.
Verletzlicher Körper
Viele von Fischers Arbeiten sind kaum auszuhalten. Sie kreisen explizit, sehr explizit um den Missbrauch, der ihm als Heranwachsender angetan wurde.
Matthias Fischer, Ende der 1950er-Jahre im deutschen Braunschweig in ein katholisches Elternhaus geboren, erlebte als Kind systematische sexuelle Gewalt durch Priester – und den eigenen Vater. Auch dieser wurde einst als Kriegsflüchtling aus dem Osten von Geistlichen missbraucht. Und wurde vom Opfer zum Täter.
In seinen Videoarbeiten zeigt Matthias Fischer sich unbekleidet, er nimmt die Pose von Jesus am Kreuz an, der verletzliche Körper ist im Fokus. Manchmal werden auch Kindheitsfotos eingeblendet und verblichene Schwarz-Weiss-Fotografien von Geistlichen. Dazu atonale, verzerrte Musik. Es sind fragmentarische audiovisuelle Erinnerungsspuren, die sich fast auch nur stückweise ansehen und anhören lassen.
Schweigen und Scham
Aber darum geht es Matthias Fischer, wenn er seine Arbeiten ausstellt, wie bald in der Heiliggeistkirche Bern. Dass hingesehen und hingehört wird: «Ich will das Schweigen und die Scham aufbrechen.»
Ein Tabu ist der Missbrauch seit letztem Herbst in der Öffentlichkeit nicht mehr: Der katholischen Kirche in der Schweiz Jahr fliegt die jahrelange Vertuschung sexueller Gewalt um die Ohren, seit Historiker*innen der Universität Zürich ihre Analyse zu geheimen Dokumenten der Kirche publik machten. Das Ausmass ist erschütternd. Über 1000 Übergriffe, die ab 1950 stattfanden, sind aktenkundig, in drei Viertel der Fälle waren Minderjährige betroffen. Der Bundesrat und die Kantone fordern die katholische Kirche auf, Missbrauch zu bekämpfen und gründlich aufzuräumen.
Matthias Fischer glaubt nicht an die interne Aufarbeitung der Kirche. Er schreibt, malt und formt weiter. «Die Konfrontation muss von aussen kommen. Immer wieder.»
Seine Kunstausstellung und das Rahmenprogramm laden dazu ein. Neben der szenischen Lesung, bei der Fischer als Gesprächsgast anwesend ist, findet auch eine Podiumsveranstaltung zum Thema «Sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch in der katholischen Kirche – wie weiter?» mit Expert*innen und Betroffenen statt.
Matthias Fischer selbst löste sich aus dem grausamen Macht- und Missbrauchkosmos seiner katholischen Kindheit. Als Jugendlicher entdeckte er die protestantische Theologie Paul Tillichs und Karl Barths und studierte evangelische Theologie, unter anderem in Bern, wo er sein Vikariat in der Nydegg-Gemeinde machte.
Ohne Vergebung
Auch die Theologie des Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer, der 1945 von den Nationalsozialisten ermordet wurde, hat Fischer geprägt. Er begriff, wie bodenlos perfid das ist, genau von den Menschen missbraucht zu werden, die von Liebe, Gnade und Vertrauen sprechen. In Anlehnung an Bonhoeffers berühmtes theologisches Vermächtnis «Widerstand und Ergebung» schreibt Fischer nun am fortlaufenden Manuskript «Widerstand ohne Vergebung». Begleitend zur Ausstellung liest der Schauspieler Markus Amrein an einem Leseabend daraus. Der Text umkreist Erfahrungen, er enthält Dialoge, in denen ein Kind zu einem Erwachsenen zu sprechen scheint, aber auch erzählerische Passagen.
Bilder, Formen, Zeichen
Nicht zu vergeben und dem, was geschah, eigene Bilder, Formen und Zeichen entgegenzuhalten, sei essentiell, meint Matthias Fischer: «Vergebung kann tödlich sein», meint er. So ist denn auch der Ausstellungstitel «Ich lasse dich nicht» ein Zitat aus dem Alten Testament: Der Urvater Jakob ringt mit Gott und lässt sich nicht von ihm bezwingen, bis dieser ihn segnet. Wenn er Kunst mache, sagt Fischer, spüre er, dass etwas aufbreche.