Sein Paradies fand er auf einem namenlosen Gipfel
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Sein Paradies fand er auf einem namenlosen Gipfel

Ausstellungen & Kulturerbe
Veröffentlicht am 29.06.2024
Susanne Leuenberger
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Vom Basislager bis auf 8500 Meter über Meer: In der Ausstellung «Am Limit» begleitet das alpine Museum der Schweiz, das ALPS, den 2011 verstorbenen Ausnahmebergsteiger Erhard Loretan auf Expedition ins Extreme. Filmaufnahmen, Mixtapes und Tagebuchauszüge machen den Alpinisten und seine Grenzerfahrungen fassbar.

Erhard Loretan verliess das Basislager immer ohne Sherpas. Er kletterte schnell und bewegte sich leicht, mit möglichst wenig Hilfsmitteln und ohne Absicherung. Fast scheint es, als tanze er in Fels, Schnee und Wind, als bezirze er mit seinen verspielten Bewegungen das unberechenbare Wesen des Bergs. Dabei musste er Entscheidungen über Leben und Tod treffen. Loretan folgte dabei seiner Intuition. Zum Beispiel, als er nach mehrtägigem Aufstieg zur Annapurna den Rückweg von einem Felsriegel versperrt vorfand. 36 Stunden dauerte der Abstieg über eine vereiste Nordwand, er und sein Gefährte Norbert Joss tranken dabei fast nichts, zwei Ovo-Sport-Riegel waren alles, was sie assen.

«A nouveau mon gros nez me n’a pas trompé» – zu Deutsch: «Wieder hat mich meine grosse Nase nicht getäuscht» – sagte er bei der Rückkehr ins Basislager, die vielen anderen wohl nicht vergönnt gewesen wäre. Und war in Gedanken bereits auf dem nächsten Gipfel. Im Laufe seines Lebens bestieg Erhard Loretan alle 14 Achttausender. 40 Touren in 20 Jahren absolvierte er.

Er versetzte nicht Berge, aber Grenzen

Mit der Ausstellung «Am Limit» begleitet das ALPS den Ausnahmealpinisten aus dem freiburgischen Bulle, der zwar keine Berge, aber durchaus Grenzen versetzte, auf seinen Expeditionen ins Extreme. Sie überlasst dazu Loretan selbst das Wort. Möglich machen das Tagebucheinträge und Film- und Diktafon-Aufnahmen aus dem umfangreichen Nachlass des 2011 verstorbenen Extrembergsteigers. Daraus schufen die Ausstellungsmacher*innen eine multimediale Reise zu den physischen und mentalen Grenzerfahrungen Loretans. Etappenweise wird dabei etwas von diesem ruhelosen, im Leben eher wortkargen Menschen greifbar, der neben der fast unbeschwerten Leichtigkeit im Berg auch den nötigen finanziellen und organisatorischen Boden zu legen verstand.

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Glück am höchsten Punkt: Erhard Loretan auf einem Gipfel. © ALPS

Denn schon die Logistik einer solchen Expedition verlangt planerische Höchstleistungen. Die ersten Meter der Ausstellung machen klar: Die meisten hätten es nicht mal ins Basislager geschafft. Bis zu 200 Träger waren allein damit beschäftigt, das Material an den Fuss eines Mount Everest oder Nanga Parbat zu schaffen. Originaldokumente mit nepalesischen Stempeln finden sich neben handgeschriebenen Einkaufszetteln und Materiallisten an den Wänden.

Stories aus der Todeszone im Dolder-Hotel

Für den behördlichen Permis zur Besteigung eines Achttausenders blätterte Loretan bereits in den 1980er-Jahren gut und gerne 7000 Dollar hin. Geld, das er zwischen den Expeditionen mit Vortragstouren durch die Schweiz beschaffte. Er sprach leidenschaftlich und gerne von seinen Erlebnissen in der Todeszone, 7000 Meter und darüber – und der Faszination der Gipfel. Gerne hörten sich auch zahlungskräftige Manager im Hotel Dolder die Bergerlebnisse des Ausnahmealpinisten an – und verstiegen sich womöglich darin, ihre eigenen Businesskarrieren im heroischen Grenzgang von Loretan zu spiegeln. Auch davon gibt es in der Ausstellung eine Kostprobe, inklusive Diashow.

Gerber Fondue und Ovomaltine fanden den Weg ebenfalls mit ins Basislager. Und das gelbe North-Face-Zelt, das Loretan vor dem Aufstieg einen Safe Space bot, eine eigentliche Zeitkapsel inklusive Walkman und Mixtapes.

Leiser Humor ist ein unerwarteter, aber treuer Begleiter durch die Etappen der Ausstellung. Denn da sind auch noch die mit Schreibmaschine geschriebenen Zusagen der Sponsoren: Gerber Fondue und Ovomaltine fanden den Weg ebenfalls mit ins Basislager. Und das gelbe North-Face-Zelt, das Loretan vor dem Aufstieg einen Safe Space bot, eine eigentliche Zeitkapsel inklusive Walkman und Mixtapes.

Mit Leonard Cohen und Patricia Kaas im Ohr studierte Loretan Aufstiegsrouten und wartete manchmal wochenlang auf gute Bedingungen für den Aufstieg. Eine nostalgische Wehmut nach dem neonfarbenen Lebensgefühl der 1980er Jahre gesellt sich unterwegs zum Gipfel dazu. Loretans Outdoorkleider sind knallig, die Skier grell.

«Ich habe die Angst vor dem Aufstieg hinter mir gelassen»

Die Smiley-Ästhetik der ausgestellten Materialien steht in einem schroffen Gegensatz zu den existenziellen und oft schmerzhaften Erfahrungen, die Loretan in der Todeszone unter dem Gipfel machte. Er verlor Weggefährten an die Unerbittlichkeit der Höhe und der Kälte. 1986 harrte er am Cho Oyu im Himalaya auf 6500 Meter über Meer über Tage hinweg neben seinem verunglückten Freund Pierre-Alain Steiner aus, um ihn im Sterben nicht allein zu lassen. Wieder eine andere Filmaufnahme zeigt, wie ein Begleiter vor Ort eine klaffende Wunde in Loretans Armbeuge näht, die er sich mit dem Eispickel selbst zugefügt hatte.

Was zog diesen Mann trotz Lebensgefahr immer wieder auf den Berg? Sich ebendieser Gefahr zu stellen. «Ich habe die Angst vor dem Aufstieg hinter mir gelassen. Ich habe den namenlosen Gipfel erreicht. Auf 4600 Meter: Das ist das Paradies», schrieb Loretan später in sein Tagebuch, aus dem ein Schauspieler via Videobildschirm vorliest. Auf diesem Gipfel ohne Namen empfand er ein kurzes Glück, für das er den Tod in Kauf nahm.

Befragung der menschlichen Existenz an sich

Es sind emotionale und philosophische Aussagen wie diese, die «Am Limit» zu einer universellen Reise machen, in der Loretans Leben und Leidenschaft zu einer Befragung der menschlichen Existenz an sich wird. Auch abseits des Bergs verlief sein Weg nicht ohne Dramen. 2001 verstarb sein wenige Monate alter Sohn, nachdem er das schreiende Kind kurz und heftig geschüttelt hatte. Loretan nutzte die Öffentlichkeit, um vor der Gefahr von Schütteltraumata zu warnen.

2011 fand Loretan den eigenen Tod im Steilhang. Mit einer Seilschaft stürzte er, 52 Jahre alt, am Walliser Grünhorn in die Tiefe. Da half ihm für einmal sein Sinn für den Berg nicht: «Ich habe mich immer dem Gelände angepasst. Ich weiss, wo der Gipfel ist und wo der Ausgangspunkt. Von dort an ist es wie sonst im Leben: Ich improvisiere!» Das dürfte auch mit nach Hause tragen, wer das Höhenfieber nicht kennt.

Zur Ausstellung «Am Limit»

Die Ausstellung «Am Limit» macht Teile des umfangreichen Nachlasses des 2011 verstorbenen Alpinisten Erhard Loretan erstmals öffentlich zugänglich. 2014 schenkte Loretans Familie sie dem Alpinen Museum der Schweiz, das neu den Namen ALPS trägt. 30 000 Diapositive, 80 Stunden Filmaufnahmen, 50 Stunden Diktafon-Aufzeichnungen, 45 Tagebücher, unzählige Dokumente sowie 150 Objekte seiner Originalausrüstung gehören dazu. An die zwei Jahre dauerte die Sichtung und Erschliessung hinsichtlich der Ausstellung. Möglich wurde dies dank eines grosszügigen Legats. Die Ausstellungsmacher*innen rund um Barbara Keller haben «Am Limit» mit viel Gespür für die Person und das Material gestaltet.

// ALPS, Alpines Museum der Schweiz, Bern

Ausstellung bis 26.3.2025

www.alps.museum.ch

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Susanne Leuenberger
Susanne Leuenberger
Redaktionsleiterin

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