Nach dieser Reise fotografierte er nie mehr
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Nach dieser Reise fotografierte er nie mehr

Ausstellungen & Kulturerbe
Veröffentlicht am 15.05.2024
Susanne Leuenberger
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Der finnische Oberst Carl Gustav Emil Mannerheim reiste zu Beginn des 20. Jahrhunderts entlang der Seidenstrasse. Die einmaligen Bilder, die er mit seiner Kamera einfing, entstanden auf Geheiss des russischen Zaren. Sie dokumentieren Menschen, Tiere und Lebensweisen einer vergangenen Welt. Fast fünfzig dieser Fotografien sind in der neuen Ausstellung «Mannerheim - Through the Marshal’s Photographic Lens: Documenting Central Asia & China» im Museum Cerny zu sehen.

In seinem Leben sah und erlebte Marshal Mannerheim viel. Unter anderem kämpfte er in beiden Weltkriegen und war später gar Präsident der finnischen Republik. Doch lange davor machte sich der leidenschaftliche Reiter und Militärmann auf eine Reise, die für andere zweifelsohne des Abenteuer ihres Lebens gewesen wäre. Es ist eine Reise, die sich heute so gar nicht mehr wiederholen liesse, denn sie führte ihn zu den Rändern der damaligen, heute längst vergangenen Welt: Als er 39 Jahre alt war, machte sich der gebürtige Finne und Oberst Carl Gustav Emil Mannerheim auf eine Expedition, die ihn zwischen 1906 und 1908 von Russisch-Turkestan entlang der Seidenstrasse bis nach Peking führen sollte.

Auftraggeber des Kavallerie-Angehörigen Mannerheim war die russische Armee – Finnland war dazumal Teil des Zarenreichs. In Mannerheims Gepäck: Eine Feldkamera im Format 9x12 cm. Mit ihr schoss der Marshal, der ein Freund des letzten Zaren, Nikolaus II. gewesen sein soll, weit über 1000 Bilder.

Es sind Momentaufnahmen der Vielfalt verschwundener, nomadischer, aber auch städtischer Lebensweisen. Sie zeigen Alltagszenen, Trauerzüge, Frauen, Männer und Kinder, die in prunkvollen oder schäbigen Roben posieren, Menschen beim Spielen oder im Gebet.

48 dieser selten gesehenen Bilder sind seit Anfang Mai im kleinen Museum Cerny im Berner Stadtbachquartier zu sehen. Die Ausstellung «Mannerheim – Through the Marshal’s Photographic Lens: Documenting Central Asia & China» entstand in Zusammenarbeit mit der finnischen Botschaft Bern. Zuvor machte die Schau, die der finnische Mannerheim-Kenner Peter Sandberg kuratierte, in der Türkei und China Halt. Sandberg hat die Negative, die teils in einem schlechten Zustand waren, dazu auch restauriert.

Die Bilder entwickelte er unterwegs

Dass Carl Gustav Emil Mannerheim durch die Bilder dem russischen Zarenreich zu strategisch wichtigen politischen und militärischen Informationen über die Grenzregionen China verhelfen sollte – Russland hatte nur wenige Jahre zuvor in der Mandschurei eine Niederlage gegen Japan erlitten und fürchtete um seinen Einfluss in ganz Zentralasien –, ist den ausgestellten Fotografien allerdings nicht anzumerken. Zu kunstvoll und zu sehr an den Menschen und ihrer Lebensweise interessiert wirken die Porträts, die Mannerheim auf der Expedition einfing.

So ist auf einem Bild eine Grenzbefestigung im uigurischen Kashgar zu sehen. Davor, auf einem Mäuerchen, posiert eine Gruppe von Einheimischen in hellen und dunklen Leinenkleidern. Sie blicken teils skeptisch, teils verschmitzt in die Kamera. Der Fokus liegt eindeutig auf ihnen, nicht auf dem Turm.

Das Interesse an den Menschen kommt nicht von ungefähr: Nebenbei plante Mannerheim auch, völkerkundliche Studien anstellen. So machte er sich in St. Petersburg mit dem Sinologen Paul Pelliot auf die Reise. Die beiden kamen allerdings nicht miteinander zurecht, und so trennten sich die Wege bald.

Fortan wurde Mannerheim jeweils von ein bis zwei Kosaken, einem Übersetzer und einem Koch auf den 14'000 Kilometern begleitet, die er und sein Gefolge grösstenteils zu Pferd zurücklegten. Die Bilder entwickelte er unterwegs.

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Eine Tischgesellschaft im chinesischen Langchow mit Vizekönig Sheng im Vordergrund links. Rechts daneben Mannerheim selbst. © Peter Sandberg

Mannerheim wollte, ganz gemäss der damaligen Zeit, die ethnisch-physischen Merkmale der Menschen dokumentieren. Auch diese Mission scheint Mannerheim jedoch in dem Moment, in dem er die Menschen ins Bild rückte, oft aus dem Blick zu verloren zu haben. Zumindest die Bilder, die Sandberg für die Schau kuratierte, lassen nicht auf ein solches Interesse schliessen. Zum Glück. Zu individuell, zu persönlich sind die Porträts, die Mannerheim mit der Kamera schoss. Die Abgelichteten blicken oft frontal in die Kamera. Unerschrocken, manchmal auch spöttisch und meist ruhig – die Belichtungsdauer betrug mehr als eine Minute.

So auch auf dem Foto, das die wohlhabende kalmückische Mutter Nasumbatoff und ihre Kinder in prächtigen Kostümen vor der Jurte festhält.  Rechts am Rand gesellt sich ein Nachbarsjunge dazu, der in ärmlicheren Kleidern und mit staunendem Blick mitposiert. Auf dem Bild fehlt der Ehemann – er sei zu betrunken gewesen, heisst es in den ausführlichen Tagebuchaufzeichnungen, die Mannerheim parallel dazu anfertigte.

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Die reiche Frau des Kalmücken Nasumbatoff mit Kindern und Nachbarsjungen. © Peter Sandberg

Atem und Schall, Reiter in vollem Galopp

Partiell verschwommen ist eine Aufnahme, die in einem buddhistischen Kloster entstand. Während einige der Lamas in ihrem stillen Sitz gebannt scheinen, wirken die Hornbläser teils geisterhaft verwischt – sie konnten bei der rituellen Beschallung, die ihren ganzen Atem beanspruchte, nicht innehalten. Beim Betrachten des Bildes stellt sich das Gefühl ein, den durchdringenden Ton zu hören.

In Turkestan wiederum, ziemlich zu Beginn seiner Reise, fotografierte Mannerheim kirgisische Reiter und ihre Tiere in vollem Galopp im Alay-Hochgebirge. Mensch und Tier verschmelzen in der dynamischen Bewegung. Die Liebe des Kavalleristen Mannerheim zu der nomadischen Lebensweise zu Pferde ist augenscheinlich. Ob er selbst an ihrer Seite ritt, als er das Foto schoss?

Opiumraucher im Tempel

Atmosphärisch, komponiert und doch wie eine spontane Momentaufnahme wirken die Fotografien, sodass man ab und zu an Caravaggio denkt. Oder auch mal an Segantinis beinahe symbolistisches «Ave Maria», dieses Idyll einer Hirtenfamilie und seiner Schafe auf abendlicher Überfahrt in einem Boot: Im heutigen Uigurischen Autonomen Gebiet Xingjiang fotografierte Mannerheim eine Gruppe von Menschen, die mit ihren Tieren auf einer einfachen Fähre den Aksu-Fluss überqueren.

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Pferde schwimmen über den Fluss Ili im heutigen Uigurischen Autonomen Gebiet Xingjiang und transportieren die Fähre. © Peter Sandberg

Auf wenigen Bildern sieht man Mannerheim und sein Gefolge selbst; eine besonders eindrückliche Aufnahme zeigt die Reisegruppe im Vordergrund eines übermächtigen Felsmassivs. Auf den ersten Blick sind die Menschen und Tiere fast unsichtbar vor der schroffen Erhabenheit dieser Landschaft. Ein bisschen so wie Mannerheim selbst als Kameramann fotografierte: Er scheint sich ganz einfach in die Lebenswelt eingefügt zu haben.  

Eine der letzten Aufnahmen zeigt müde Opiumraucher in einem zerfallenen Tempel in der Nähe von Peking, der Endstation der Reise. Danach soll Mannerheim die Kamera verkauft haben. Und dann folgten Jahre der Kriege. Und die Welt, die er dokumentiert hatte, versank.

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Und noch einmal Mannerheim, diesmal with Beamten in Aksu, im heute Uigurischen Autonomen Gebiet Xingjiang. © Peter Sandberg

Mannerheims Vermächtnis als Fotograf

Im Zweiten Weltkrieg war Mannerheim der Oberbefehlshaber der finnischen Armee und kämpfte in beiden Angriffskriegen der Sowjetunion gegen Finnland. 1944 wurde er kurzzeitig zum Präsidenten der Republik Finnland, mit General Guisan verband ihn eine jahrelange Freundschaft.

Seine schlechte Gesundheit führte Mannerheim immer wieder in die Schweiz, genauer nach Glion oberhalb von Montreux. In der Schweiz starb er dann auch 1951 im Alter von 84 Jahren.

Erst in den 1940er-Jahren wurden seine Reisebilder erstmals als Buch publiziert und breiteren Kreisen in Finnland, aber auch in Zentralasien und China bekannt.

Mannerheim wollte in seinen späteren Jahren die Fotografie wiederaufnehmen – dazu kam es aber nie. Die über 1000 Abzüge seiner Reise blieben sein einziges Vermächtnis als Fotograf.

Bis August sind sie in Bern zu sehen. Ein Besuch im Museum Cerny lohnt sich.

// Museum Cerny, Bern

Ausstellung bis 4.8.

www.mcca.ch

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Susanne Leuenberger
Susanne Leuenberger
Redaktionsleiterin

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