Falken fliegen über die Josefwiese
Tabea Steiner liest im Progr aus ihrem ersten Essayband «Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat». Die Dringlichkeit, sie kommt bei der Zürcher Autorin in leisen Tönen, einer klaren Sprache und präzisen Beobachtungen daher.
Das Ich, es ist ein Kind, das unter der Anweisung der Grossmutter ein Ei in die Milch zerschlägt, um daraus eine Schokoladencreme zu machen: «Verrühr es schnell, sagte Grossmutter und drehte den Herd an, dann musst du es nicht mehr sehen.» Nur, das Kind hat eigentlich längst gewusst, was der dunkelrote Schleim im Ei bedeutete. Es war befruchtet. Zwei Seiten später steht, was das Kind erst als Erwachsene erfahren würde: Der Bruder der Grossmutter hatte dieser nachgestellt, «als sie anfing, eine Frau zu werden.»
Es sind solche kontrastreichen Szenen, mit welchen die Autorin und Literaturvermittlerin Tabea Steiner familiäre Verbindungen sucht – und findet. «Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat» heisst ihr erster Essayband, der von dieser fragmentarischen Erzählweise lebt.
Poesie in der Reduktion
Steiner, auf einem Toggenburger Hof aufgewachsen und in Zürich lebend, erweist sich wie bereits in ihren Romanen «Balg» (2019) und «Immer zwei und zwei» (2023) als äusserst präzise Beobachterin. Sie inspiziert die Welt, die sie umgibt, sie dröselt Beziehungsgeflechte auf und reduziert sich sprachlich auf das Nötigste. Und ebendiese Reduktion verleiht ihren Geschichten, die zwischen 2016 und 2024 entstanden sind, eine anziehende poetische Kraft.
Dabei geht es immer wieder ums Existenzielle; Leben, Tod und Fruchtbarkeit. Eine Geschichte handelt vom anfangs beschriebenen Kind, das genau weiss, wie Kühe befruchtet und geboren, aber auch geschlachtet werden, und trotzdem nicht hinsehen soll beim Metzger. Ein anderes Mal lesen wir von einer erwachsenen Autorin, die während der Covid-Pandemie die brütenden Zürcher Falken über der Josefwiese via Webcam beobachtet oder aus einer Kinderwunschklinik davonläuft: «Ich stand auf und ging, ohne auch nur eine einzige dieser Möglichkeiten in Betracht gezogen zu haben; mein semantisches Feld des Begriffs Leben hatte sich innerhalb weniger Stunden um ein Vielfaches ausgedehnt.»