Drei, die sich zum Dreieck fügen
 Minuten Lesedauer
Zurück

Drei, die sich zum Dreieck fügen

Literatur
Veröffentlicht am 23.04.2024
Susanne Leuenberger
 Minuten Lesedauer

Sie sind auf der Suche nach oder auf der Flucht vor Erinnerungen. Und sie finden auf ihre Weise zueinander und zu sich: Der Roman «Feuerlilie» kommt mit nur drei Figuren aus. Autorin Gianna Olinda Cadonau erzählt die Geschichte einer Begegnung von sehr unterschiedlichen Menschen in einem Bündner Dorf. In der Kornhausbibliothek liest sie zur Eröffnung der rätoromanischen Abteilung aus der Erzählung voller poetischer Nahaufnahmen sowie aus rätoromanischen Texten. Musikalisch begleitet sie der Singer-Songwriter Pascal Gamboni.

Vera beobachtet die dunklen Gesichtszüge eines dösenden Manns, der mit ihr im Zugabteil reist. Sie nimmt wahr, wie sich sein Kopf leicht nach hinten neigt, wie seine Augen auch im Schlaf halb geöffnet scheinen. Dann folgt ihr Blick der Narbe auf der rechten Wange seines Gesichts, bis sie in der Mitte der Stirn verschwindet.

Die Heimkehrerin, der Fremde

Für einen Schreibauftrag kehrt die Journalistin Vera aus der namenlosen Stadt zurück ins rätoromanische Dorf, in dem sie aufwuchs. Genauer ins Haus ihrer Kindheit. Als der Zug im Dorf zum Stehen kommt, steigt auch der Mann aus. 

Gianna Olinda Cadonaus Roman «Feuerlilie», 2023 im Lenos-Verlag erschienen, beginnt mit der so genauen und wie skizzenhaften Schilderung der ersten Begegnung von Heimkehrerin Vera und Kálmán, dem Fremden. Es kommt zu weiteren im Dorf, in dem sich die beiden zaghaft näherkommen. 

 

«Mit ihm spreche ich nur über Unsichtbares, obwohl wir einander nach Sichtbarem fragen, von Sichtbarem erzählen. In Wirklichkeit geht es um das Unsichtbare. Es ist grösser.» 
— aus «Feuerlilie» von Gianna Olinda Cadonau

Vera, die dem Kindheitsort Schauplätze und Worte abringen will, spürt eine Nähe zu dem Mann, der aus dem Osten kommt und der ebenso wenig preisgibt wie das Dorf, von dem sie sich entfremdete. So sinniert sie an einer Stelle: «Mit ihm spreche ich nur über Unsichtbares, obwohl wir einander nach Sichtbarem fragen, von Sichtbarem erzählen. In Wirklichkeit geht es um das Unsichtbare. Es ist grösser.» 

Der schweigsame Kálmán: Er kommt mit einer Kriegsvergangenheit im Dorf an, die ihn nicht nur körperlich versehrt hat. Da ist etwas in dem Haus, das er hier bewohnt, das ihn bedroht, sodass er die Türen aus den Angeln hebt und Bannkreise zeichnet. 

Unsichtbare Räume

Und schliesslich findet auch Sophia, Veras Schwester, Eingang in die Geschichte. Wie Vera lebt sie mittlerweile in der Stadt – kämpft aber mit psychischen Problemen. Während Kálmán sich vor Türen fürchtet, begibt Sophia sich immer wieder auf traumwandlerische Suche nach einer Tür, die sich zu einem unsichtbaren Raum hin öffnet. Und eines Tages steigt auch sie in den Zug in Richtung Dorf. 

Mehr als diese drei Figuren braucht die Bündner Autorin Gianna Olinda Cadonau nicht, um eine feine Geschichte zu erzählen, in der Verletzungen, Kriegserfahrungen und Traumata vielleicht nicht ganz heilen, aber das Weitergehen und Weiterleben möglich wird. Cadonau, die bisher vor allem Lyrik und kürzere Erzählungen in Deutsch und Rätoromanisch veröffentlicht hat, schreibt in einer poetischen, angedeuteten und bedeutungsvollen Sprache, in der die Handlung den vielen erzählerischen Nahaufnahmen und Stillleben weicht. Mal lässt Cadonau Vera, dann Kálmán und dann wieder Sophia erzählen, die Kapitelüberschriften geben ihren Standort im Dorf wieder.

«Du bist gekommen.» «Ja.»

Und so reichen sich die drei in der Geschichte die Hände zu einem schützenden Dreieck. Dieses ergibt sich dadurch, dass sie sich im Dorf begegnen, aber an je unterschiedlichen Standorten in ihrem Leben stehen. Ein schönes Bild für die Erzählung, mit der Vera am Ende aus dem Dorf zurück in die Stadt kehrt. Und ein schönes Bild für Nähe, die gerade dadurch möglich wird, weil Distanz bleibt. So heisst es an einer Stelle, an der Vera Kálmán sucht: «Ich gehe wieder zu ihm, setze mich, diesmal neben ihn. Nicht zu nah, ich möchte ihn nicht berühren, nicht aus Versehen. Wieder warten wir. Draussen beginnt es zu dämmern. Du bist gekommen.   Ja. »

 

// Kornhausbibliothek, Bern 

Do., 2.5., 19.30 Uhr

www.kob.ch

 

Artikel des/derselben Autor:in
Susanne Leuenberger
Susanne Leuenberger
Redaktionsleiterin

BKa abonnieren

Dieser und unzählige weitere Artikel sind auch in gedruckter Form erhältlich. Die Berner Kulturagenda erscheint zweiwöchentlich und beleuchtet das Berner Kulturgeschehen.