B wie Brennnesseltee, K wie King Kong Theorie
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B wie Brennnesseltee, K wie King Kong Theorie

Literatur
Veröffentlicht am 05.05.2024
Susanne Leuenberger
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Die 46. Solothurner Literaturtage wagen literarische Erkundungen des Unsagbaren: Laura Leupis «Alphabet der sexualisierten Gewalt» etwa buchstabiert eine Vergewaltigung durch – und wurde beim letztjährigen Bachmannwettbewerb ausgezeichnet. Auch das japanisch-deutsche Autorin-Übersetzerin-Gespann Sayaka Murata und Ursula Gräfe findet am Festival an der Aare Worte für Tabuthemen.

Mit Anfang 20 wurde Laura Leupi vom eigenen Partner in der eigenen Wohnung vergewaltigt – und folgte daraufhin dem Rat der Therapeutin. «Machen Sie Kunst», lautete der; denn die heile mehr, als sich bei der Polizei zu melden und den Gang vor Gericht durchzustehen. Laura Leupi, Zürcher Autor*in, Performer*in und Studierende an der Hochschule der Künste Bern, bewarb sich auf eine Kunst-Residenz im Toggenburg zum Thema «Home»: Just zu dem Thema ihres Lebens, diesem Zuhause, das für Leupi gerade so unheimelig geworden war. Während dem Aufenthalt im Kunsthaus entstand das «Alphabet der sexualisierten Gewalt». Einen Auszug daraus las Leupi in Klagenfurt beim Bachmannwettbewerb 2023 vor – und gewann damit den 3sat-Preis.  

Manifest und Journal Intime

Was ist das für ein Text, dieses «Alphabet der sexualisierten Gewalt»? Schwer zu sagen, so wie sexualisierte Gewalt selbst entzieht er sich einer klar benennbaren Form. Es ist ein ABC dessen, was unsagbar ist, ein verhaltener, stockender und wilder Wordfluss zugleich, performative autofiktionale Beschwörung, Protokoll einer Vergewaltigung, Aufzählung, Auflistung, Manifest und Journal Intime, das sich an keine Erzählposition oder Textgattung lange hält, und das die Ordnung des Alphabets von innen aushöhlt. Und so über alle Ränder hinaus ausweitet.

Bettlaken und Körperenden

Doch zuerst ist da der grosse Verlust an Heimat, der sich in Leupis Schreiben breitmacht. Leupis Zeugen sind etwa die Körperteile, die nach der sexuellen Gewalterfahrung ausser sich und ausser Kontrolle geraten, die Gegenstände des Zuhauses, die nun ein Eigenleben führen: «Ich versuche, meine Körperenden einzuziehen, aber sie kleben am Boden fest. Meine Körpermitte liegt still auf dem Bettlaken, und während ich schlafe, beginnen die Bettwellen zu tanzen. Meine Körperenden tanzen mit, obwohl ich nie tanzen wollte, und später werden sie mich fragen, wie es nur so weit kommen konnte.»

«Meine Körpermitte liegt still auf dem Bettlaken, und während ich schlafe, beginnen die Bettwellen zu tanzen. Meine Körperenden tanzen mit, obwohl ich nie tanzen wollte, und später werden sie mich fragen, wie es nur so weit kommen konnte.»
— Laura Leupi in «Alphabet der sexualisierten Gewalt»

Sechs Seiten Femizide

Leupi beschreibt das Unbehaustsein im Zuhause und im eigenen Körper; das sind die Nahaufnahmen der Versehrung, die «Spurensicherung», wie Leupi es selber nennt. Gleichzeitig geht Leupi im Text immer wieder auf Distanz zu sich und zum Verbrechen, klammert sich an die vermeintlich fixen Stichworte der alphabetischen Ordnung («B steht für Brennnesseltee, B steht für Bundesamt für Statistik») und fertigt eine erschreckende sechs Seiten lange Liste aller Femizide an, die sich seit dem 8. März 2021, dem Tag der Frau, bis zur Drucksetzung im Frühjahr 2024 in der Schweiz ereigneten.

«Dieses Buch hat mein Leben gerettet»

«Das Alphabet der sexualisierten Gewalt» ist ein rohes und poetisches Protokoll der körperlichen und psychischen Spuren, die eine Vergewaltigung zurücklässt, aber auch eine Aufzählung und Anklage des gesellschaftlich verordneten, binär kodierten Schweigens darüber. Denn im «rape script» ist weibliches Stillsein vorgesehen: hier der Mann als Täter, da die Frau als stummes und traumatisiertes Opfer. Doch Laura Leupi selbst identifiziert sich gar nicht als Frau, und will durch das Verbrechen weder dazu gemacht noch zum Opfer werden. Und ruft so auch Künstler*innen auf, deren Arbeit um sexualisierte Gewalt gegen Frauen* kreisen. Kompliz*innen, die das «rape script» durchstreichen und damit bannen.

Tracey Emins ungemachtes Bett, Nan Goldins «Heart shaped Bruise» zum Beispiel. Und das selbstbewusste Vergewaltigungsmanifest «King Kong Theorie» der französischen Schriftstellerin Virginie Despentes, die sich eben weigert, als Vergewaltigte die Opferrolle anzunehmen. «Denn dieses Buch hat mein Leben gerettet», heisst es beim Buchstaben K des «Alphabets». Und so stellt sich bei der Lektüre auch das Gefühl einer intertextuellen und poetischen Heilung ein. Dieser bei Laura Leupis Lesung an den Solothurner Literaturtagen beizuwohnen, dürfte ein Ereignis werden.

Kannibalismus, Asexualität und andere No-Gos

Die Protagonistinnen der japanischen Schriftstellerin Sayaka Murata sind ziemlich gut darin, sich den patriarchalen und einengenden Erwartungen der Gesellschaft zu entziehen – oder sogar ganz in ihnen aufzugehen. Letzteres etwa in der Satire «Die Ladenhüterin» aus dem Jahr 2016, die von einer Kombini-Supermarktangestellten ganz ohne eigene Persönlichkeit erzählt. Muratas erfinderische, oft weibliche Aussenseiter*innen richten sich aber gern auch in lustvollen Gegenwelten ein. Kannibalismus, Asexualität oder andere No-Gos sind darin gang und gäbe, etwa im Roman «Das Seidenraupenzimmer» aus dem Jahr 2018.

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Die Schriftstellerin Sayaka Murata schreibt Fantastisches gegen die Zwänge der urbanen, japanischen Gesellschaft. ©Bungeishunju

Unbändige Lust nach Löwenzahn

Sayaka Muratas Bücher werden in alle möglichen Sprachen übertragen – von Ursula Gräfe kongenial ins Deutsche. Die beiden kommen nun als Autorin-Übersetzerin-Gespann nach Solothurn – und mit Muratas neuem Erzählband «Zeremonie des Lebens». Hier entdecken die Figuren etwa eine unbändige Lust nach Löwenzahn und Beifuss, den sie aus dem Asphalt der Grossstadt Tokio klauben, oder sie tragen Menschenhaarpullover – und sie lernen, sich selbst zu befriedigen. Und fühlen sich dabei, befreit von sogenannt schmutzigen Gedanken, so rein wie nie.

Auch Sayaka Murata und Ursula Gräfe – die übrigens auch Haruki Murakami übersetzt – sollte man nicht verpassen.

 

// Solothurn, diverse Orte, Fr., 10., bis So., 12.5.

  •   Lesung Laura Leupi: Säulenhalle. Fr., 10.5., 10 Uhr
  • Lesung und Gespräch Sayaka Murata und Ursula Gräfe (mit Karin Pfammatter und Thomas Eggenberg): Theatersaal. Fr., 11.5., 11.30 Uhr

www.literatur.ch

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Redaktionsleiterin

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