Aus den Ritzen der Realität wuchert der Wahnsinn
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Aus den Ritzen der Realität wuchert der Wahnsinn

Kunst Musik Literatur Performance
Veröffentlicht am 12.02.2024
Susanne Leuenberger
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Warum sind wir in der Tiefsee? Und wer wacht hier im Notfall auf? In die sieben neuen Mundart-Songs von Cruise Ship Misery schleichen sich Verwirrung und Verfremdung. Dazu tanzen geht trotzdem. «Brutto Inland Netto Super Clean» heisst das neue Album des Berner Spoken-Pop-Projekts von Sarah Elena Müller und Milena Krstić, das neu im Trio mit Schlagzeuger Johannes Werner auftritt. Ein Buch zum Album gibts obendrauf.

Cruise Ship Misery machen keinen Easy-Listening-Sound. Ausser, man hört einfach darüber hinweg, wenn Milena Krstićs Popstimme sich an doch ziemlich irrlichternde berndeutsche Refrains wie «es rüeft us em waud / bis baud / i nime dr aus» schmiegt. 

«Brutto Inland Netto Super Clean» heisst das neue Album, das zweite des multimedialen Spoken-Pop-Projekts Cruise Ship Misery, mit dem Schriftstellerin und Multimediakünstlerin Sarah Elena Müller und Musikerin, Performerin und Autorin Milena Krstić seit 2016 unterwegs sind. 2019 veröffentlichten die zwei das Album «Urteil». Neu ist Johannes Werner dazugestossen, sein Schlagzeug ist auf den sieben Songs zu hören. Cruise Ship Misery sind damit eine komplette Band. So hört sich das Album auch an. Gerade live dürfte es rockiger klingen, denn bisher kam der Beat noch aus dem Alleinunterhalter*innen-E-Piano von Sarah Elena Müller. Die Disco-, Techno- und Elektro-Elemente machen die Lieder mit den notorisch verwirrenden Texten richtig gut tanzbar. 

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Was geschieht hier? Zu den Lyrics und Kurzgeschichten von «Brutto Inland Netto Super Clean» gesellen sich die Illustrationen von Luca Schenardi. © Luca Schenardi

Aus dem Behagen geraten

Doch erst wirklich super wird es, wenn man beim Tanzen auch zuhört. Denn nur dann stellt sich dieses seekranke «je ne sais quoi» ein, für das Cruise Ship Misery haften (oder eben nicht), um im Bildbruch zu bleiben. Das Gefühl, die logische, moralische und emotionale Orientierung zu verlieren und aus dem Behagen zu geraten, während der Körper wohlig im Rhythmus wogt, wenn nicht gar in Euphorie gerät, hat etwas für sich. 

Das geht besonders gut live, wenn Sängerin Milena Krstić in viel Glitzer und mit viel Präsenz das Publikum bannt. Mal getragen und gekrault, mal aufgedreht und in Spannung versetzt vom poppigen E-Piano von Sarah Elena Müller, die in Hoody und Dächlikappe diskret die Tasten drückt, lässt es sich gut wippen oder gar drehen zu Zeilen wie «Substanz / Relevanz / Ambivalenz / Tanz» oder «Bad / Chuchi / Eggbank / Schwige / Blick / Geschte / Wort vermide».

Geradezu unwiderstehlich-bizarr wird es, wenn Krstić das irre Mantra des bürgerlichen Überlebens tief ins Bewusstsein raunt: «wenn nötig häufe / wenn nötig häreluege / u wenn müglech / mit Charte zahle.» 

Nichts stimmt hier, aber sie hören sich einfach gut an, die Songs, in denen sich Essgestörte, Suchtkranke und einfach sonst Wahnsinnige, gern auch solche aus der bürgerlichen Komfortzone «Eigenheim» (so nennt sich einer der neuen Songs), mit kryptischen Botschaften und Gedankenfetzen vom soliden Alltag abmelden. Oft kommt man da nicht ganz mit. Warum sind wir jetzt plötzlich in der Tiefsee oder warum wachen Murmeltiere über den Winterschlaf? Und warum wachen wir plötzlich im Notfall auf? Egal, verstehen wollen ist nicht alles. Und geradezu unwiderstehlich-bizarr wird es, wenn Krstić das Mantra des bürgerlichen Überlebens tief ins Bewusstsein raunt: «wenn nötig häufe / wenn nötig häreluege / u wenn müglech / mit Charte zahle.»

 

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Die Illustration zum Lied «Bis bald» von Luca Schenardi © Luca Schenardi

Was ist das, Cruise Ship Misery?

Selten klingt Berndeutsch so ungemütlich charmant. Wie macht man so was? Oder anders gefragt: Was genau ist das, Cruise Ship Misery? Es ist eigentlich ein Übersetzungsprojekt, das Sarah Elena Müller und Milena Krstić als Autorin-Interpretin-Gespann hier vorantreiben. Oder, wie die beiden es selber scherzhaft nennen, eine «Überschätzung». Ein Vorgehen, das sich seit der allerersten Zusammenarbeit – das war vor bald 8 Jahren – bewährte: Sarah Elena Müller, deren beklemmend-gutes Romandebüt «Bild ohne Mädchen» über einen Missbrauch und sein Verdrängen vergangenes Jahr erschien und für den Schweizer Buchpreis nominiert war, ist quasi Ghostwriterin für Milena Krstić, die aus der hochdeutschen Lyrik von Müller berndeutsche Lyrics macht. 

Man muss sich das so vorstellen: Ist der Song fertig geschrieben, liegen die schriftdeutschen Originalgedichte im gemeinsamen Proberaum auf dem Boden verstreut, die Papierbögen sind verkritzelt und überschrieben. Krstić übersetzt und setzt neu zusammen. Einzige Bedingung: Der sprachliche Duktus und die Rhythmik des Hochdeutschen dürfen nicht dem Berndeutschen weichen. Die Verfremdung schleicht sich auch in den Dialekt ein.

Gut, gibts dazu ein Libretto 

Und so reimt sich im Song «Dr letscht Ort» auch mal das «ungerä Ändi vor Delegationskaskade» auf «aus flügt eim zue / aus gheit uf eim abe». Zum Beispiel Blumen oder Wasser, bevor der Sarg mit Erde überschüttet wird.

Die opaken Songtexte von «Brutto Inland Netto Super Clean» bündeln ganz schön viel an zivilisatorischer Verstörung. Gut, gibts dazu eine Art Libretto, herausgegeben vom Der Gesunde Menschenversand Verlag. Neben die berndeutschen Lyrics sind sieben Kurzgeschichten von Sarah Elena Müller gestellt – und sieben bildlich dichte Illustrationen von Luca Schenardi. Mit dem Künstler arbeitete Sarah Elena Müller bereits mehrmals zusammen.

Und so gibts den wuchernden Wahnsinn, den Cruise Ship Misery aus den Ritzen der Realität spachteln, gleich multimedial. Getauft wird «Brutto Inland Netto Super Clean» übrigens in der Buchhandlung Stauffacher. Ein unerwarteter Ort für die Spoken-Pop-Performance von Cruise Ship Misery. Aber vielleicht gerade darum stimmig, weil es eben nicht zu stimmig werden darf.

Orell Füssli, Buchhandlung Stauffacher, Neuengasse 25-37, Bern

Sa., 24.2., 20.30 Uhr

www.orellfuessli.ch

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Susanne Leuenberger
Susanne Leuenberger
Redaktionsleiterin

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